ein Brief vom 7.12.1944

Brief von Herrn Alfred Harmuth an seine Mutter und Schwiegermutter geschrieben.
Traubenmühle, den 07. Dezember1944

Liebe Mutter! Liebe Dresdner!
Nun will ich Euch einen Bericht geben über die Nacht vom 4. zum 5. Dezember 1944.
Es war die Schrecklichste meines Lebens. Nehmt es mir nicht übel, wenn ich einem von Euch einen Durchschlag schicke – man schreibt so etwas nicht gern zweimal.
Es ist fast tragisch, daß ich auf den Tag genau, nach 10 Jahren meine geliebte alte Apotheke verloren habe, nicht weil ich an ihr allein als Erwerbsquelle gehangen habe, sondern weil sie mir der Inbegriff einer Apotheke war, die ebenso den Hauch des Geheimnisvollen wie den Geruch der Jahrhunderte in ihren Mauem barg.
Generationen kamen und gingen in ihr, Schicksale aller Art trugen sich in ihr zu – Freud und Leid, der Ruf echten und reichen Bürgertums hing ihr bis heute an.
Der Name „Sicherer“ war ein Begriff seit zwei Jahrhunderten, und nach den letzten Nachforschungen war die „Sicherer’sche Apotheke“ in Heilbronn nicht nur die Älteste der Stadt, sondern überhaupt eine der Ältesten Deutschlands. Kulturlosen Luftrowdies war es vorbehalten, wie so vielen wertvollen Kulturgutes auch, meinem lieben Heim den Todesstoß zu versetzen.

Quelle: LMZ, 80

Es war am Montag den 4. Dezember – ich war am Mittag gerade von den Kindem aus der Mühle gekommen – .
Am Abend nach Apothekenschluß sagte ich zu Frau Stahl: Ich komme gleich mit, dann erreichen wir die 7 Uhr Straßenbahn noch (ich schlafe ja seit einigen Wochen bei Fam. Butz in der Nahe des Trappensees).
Am Kiliansplatz gab es – wie so oft – Voralarm. Wir beschlossen, sofort zu laufen, da bei Voralarm die Straßenbahnen der verräterischen Funkenbildung wegen nicht fahren. Wir liefen gerade auf die Kaserne zu, es war stocknacht – an der Friedenskirche gab es Vollalarm. Da Frau Stahl es gern wollte, suchten wir einen Keller schräg über der Moltkekaserne auf. Es war der Keller einer Ortsgruppe, stabil, tief und stark gewölbt.
Zufällig traf ich einen bekannten Bauführer und eine Kundin darin, Flugzeuggeräusch war schon zu hören. Der Drahtfunk meldete: „Anflug starker Kampfverbände auf Heilbronn“. Nach 5 Minuten hieß es „Mit Angriff auf Heilbronn ist rechnen“ und dann ging es auch schon los. Serienweise fielen die Bomben. Nach ungefahr fünf Minuten fiel das Licht aus, das große massive Haus bebte in allen Fugen. Kalk flog von den Wänden, der Luftdruck raste in Stößen durch den Keller.
Die Frauen kauerten eng zusammen gepresst an die Umfassungsmauern, manche jammerte und stöhnte. Frau Stahl hockte in sich gekrümmt bleich auf der Erde. Einige Frauen krochen unter die Waschzuber, um beim evtl. Zusammenbrechen des Kellers den Kopf zu schützen.
Bei naheliegenden Bomben hatte man das Gefühl, als ob der Kellerboden sich wellenförmig bewegte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, als ob mir nichts passieren kann. Ja, sogar ein gewisses Gefühl der Neugier, was nun kommen mag. Trotzdem möchte ich diese halbe Stunde nicht noch einmal erleben. Als es schien, daß der Angriff vorbei war, sondierten wir, wie es wohl draußen aussehen mag – es war fürchterlich. Über Trümmer aller Art gelangten wir zum Hauseingang. Draußen eine rötliche feurige Helle – prasselnd brannten die Gebäude um uns, große Platanen lagen quer neben allen möglichen Gebäudeteilen auf der ziemlich breiten Straße. Dichter Qualm und rasende Funkenwirbel rasten durch die Luft, ich rief Frau Stahl, es sei wohl Zeit, rauszukommen, lief noch einmal in den Keller und tauchte dort meinen Hut und Mantel und Schal vollkommen in ein Wasserfaß, zog die klatschnassen Sachen an und so liefen wir in Richtung Trappensee.

Das Haus in dessen Keller wir gesessen hatten, brannte ebenfalls lichterloh. Rauch quoll schon hinein und Funken tanzten durch den Keller. Wie das möglich war, weiß ich nicht, vermutlich muß eine Decke durchgebrochen sein. Da Frau Stahl in der Nähe wohnt und es ungefährlicher nach weiter draußen aussah, ließ ich sie alleine gehen und versuchte nach dem Marktplatz zu kommen um nach der Apotheke zu sehen. Über die Kaserne gelangte ich in die Nähe des Stadtgartens, jedes Haus – aber auch jedes brannte. Ein unheimlicher Sturm, durch die vielen Feuer entfacht, raste in der Luft. Richtige Windhosen von Funken und brennenden kleinen Holzteilen sausten stoßweise, richtige Wirbel bildend, herum. Sprengtrichter und offene Kanaldeckel mußte man achtsam umlaufen, rausgedrehte Bäume, meterlange Dachrinnen, Balken und Gesteinsblöcke musste ich überklettern, aber an der Allee war ein Weiterkommen unmöglich oder Selbstmord. Weinende Frauen und Kinder kamen mir entgegen – eine wollte ein paar Kinderschuhe von mir haben, es waren schreckliche Bilder.
Ich versuchte nun über die Oststraße auf den Markt zu kommen, aber dort brannte alles mit hellen Flammen. Zufällig traf ich den Optiker Frick, der uns schräg gegenüber wohnt – er suchte verzweifelt seine Frau und Kinder.
Krachend brach wieder ein Gebäude zusammen, Funkentürme in die Luft schleudernd. Verzögerungsbomben explodierten donnernd – es war ein Weltuntergang, der Sturm wurde immer schlimmer.
Ich gab es auf, zur Innenstadt zu kommen und machte mich auf den Weg zur Familie Butz – immer wieder meinem Gott dankend – daß Liesbeth und die Kinder in Sicherheit waren und all das Schreckliche nicht erleben brauchten. Mit den vier Kindern wäre ein Herauskommen aus der engen, brennenden Innenstadt sehr schwer gewesen.
Bei Butzens waren nur die Scheiben herausgeflogen, das Dach etwas entblättert, sonst alles heil.
Eine aufgeregte Gesellschaft empfing mich, wir räumten noch Haufen von Scherben hinweg, dann ging ich erschöpft in mein Bett, das noch unversehrt war. Von meinem hochgelegten Zimmer bot sich mir ein schaurig schöner Anblick, die ganze Stadt ein Flammenmeer – riesige, dicke Qualmwolken wurden von einem wahren Orkan hochgerissen. Es heulte und orgelte in den Bäumen, als sollte die Welt untergehen.
Noch 40 Kilometer von Heilbronn wurden Akten und Geldscheine (in Hütten hier in der Nähe) gefunden.
Dauernd donnerten die Explosionen der Zeitzünderbomben. Nach einer recht unruhigen Nacht – ohne Kaffee, ungewaschen, dreckig und übermüdet lief ich in die Stadt. Die Bilder waren unvergesslich: vom Eingang des Pfühlparks an gab es kein Haus, das unversehrt war. Je näher man dem Zentrum kam, desto größer waren die Zerstörungen. Der Stadtgarten sah toll aus. Von der Allee ab durch die Kaiserstraße bis zum Neckar mußte man an qualmenden Häusern vorbei wie über ein Geröllfeld in den Alpen über riesige Steintrümmer jonglierend. Von gangbarer Straße keine Spur mehr. Mit immer bangerem Herzen kam ich zum Markt, Ein kleinwenig Hoffnung, daß die Apotheke noch steht, schöpfte ich aus dem Umstand, daß ich den Kiliansturm noch stehen sah.
Doch der nächste Blick ließ alle meine Hoffnungen fahren. Die Apotheke ist nur noch ein einziger Steinhaufen von ca. 2.50 Meter Höhe.
Nichts aber auch rein gar nichts ist von den Umrissen eines Hauses zu ahnen. Ein trauriges Häufchen Schutt ist das Ergebnis von auf den Tag genau 10-jährigem Strebens und Arbeitens.
Vor genau 10 Jahren begann ich hier hoffnungsvoll und voller Arbeitslust meine Apotheke aufzubauen, in dem Glauben, daß einst einer meiner Söhne mein Erbe antreten wird, bewußt die Tradition der altbekannten Apotheke pflegen, voller Pläne für die Zukunft.
Wie mir da zumute war, möchte ich Euch nicht schildern.

Kurze Zeit später kam Frl. Ulshöfer und blickte auf die Trümmer. „Unsere schöne Apotheke“, sagte sie. Sie überreichte mir die Jubiläumskarte von Dir, liebe Mutter und sagte, daß sie sich alle so auf den heutigen Tag gefreut hätten, daß sie früher kommen wollten um die Apotheke zu schmücken, daß sie Blumen gekauft hätten und extra eine Karte hätten drucken lassen.

Rundherum jetzt Stätten des Grauens. Kein Haus steht mehr am Markt.
Alles Trümmer, wenn es hochkommt, steht bei ganz massiven Häusern wie bei dem Käthchenhaus (das um 1250 erbaut ist) oder dem Bankverein nebenan, noch einige Umfassungsmauern. Frei und ungehindert geht der Blick bis zum Wartberg, auf der anderen Seite bis zum Neckar. In der Gegend vom Pfühlpark bis zum Bahnhof ist alles restlos kaputt.
Die Innenstadt ist so total zerstört, daß ich nicht glaube, daß noch ein Geschäft steht. Von den sieben Apotheken sind wahrscheinlich sechs zerstört.
Etwas spater trafen wir Frl. Niefer, die jüngste Helferin, von Frl. Kühnel wissen wir nichts.
Vielleicht bringt die Roset Nachricht, sie ist in der Stadt. Die Kinderschwester Ruth war in der Apotheke, auch von ihr wissen wir noch nichts. Vielleicht ist sie herausgekommen, vielleicht liegt sie in einer Rettungsstelle.
Frau Sauter mit den Kindern ist schon längst fort.
Der materielle Verlust ist natürlich sehr hoch.
Bitte, liebe Mutter, schicke mir die Aufstellung an Möbeln usw. was wir besaßen (…) Wir haben dadurch so manches gerettet.
Ich hatte ja viel verlagert, trotzdem sagt man sich, daß noch mehr hatte weggebracht werden können. Doch es war schon eine Riesenarbeit das alles zu schaffen, und das kostbare Leben, Gesundheit und meine gute Frau mit meinen vier lieben kleinen Sprößlingen sind mir erhalten geblieben – und das wiegt alles Geld und Gut auf. Ich freue mich hier an ihnen und vergesse all die schrecklichen Bilder. Ich bin frohen Mutes, wieder aufbauen zu können und hoffe nur, daß es auch möglich sein wird.
(…)
Mit herzlichem Dank für die Erlaubnis der Wiedergabe für Zeitsprünge Heilbronn an Familie Harmuth.

Else Daniel-Stroh aus Heilbronn malte ihre Erlebnisse vom 4. Dezember 1944 im Gemälde „Momentaufnahme des Grauens“

  aus: Titelblatt „Heilbronn – die schwersten Stunden der Stadt“, Stadtarchiv Heilbronn, 79

Werner Dierlamm berichtet im Filmgespräch über das Inferno aus Heilbronn

Waltraud Bothor erzählt für „Gedächtnis der Nation“ über das brennende Heilbronn

Emil Beutinger, Oberbürgermeister bis zur Absetzung 1933 durch die Nazis, schrieb ein Tagebuch in der Zeit von 1933 bis 1945, das vom Stadtarchiv in Auszügen in ein Projekt über das III. Reich aufgenommen wurde.

Margarethe Weeber und Hans Müller berichten in der Stuttgarter Zeitung von ihren Erlebnissen am 4.12.1944.

 

unterstützt von

Stadtinitiative Heilbronn – Intersport Saemann – Sparkasse  –  Volksbank A. Grimmeissen – M. Lindenthal – Rolf Wacker – Stadtarchiv – Code für Heilbronn

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